Rezension: Die Gabe der Amazonen

Vielen Geschichten und Mythen ranken sich um die geheimnisvollen Amazonen und ihre versteckten Burgen. Als Ypolitta, die Königin der Amazonen, spurlos verschwindet, schickt Ihr Vater einen kleinen Trupp von Abenteurern los, um herauszufinden, was mit seiner Tochter geschehen ist. Wir haben Ulrich Kiesow und seine Helden durch den ersten richtigen DSA-Roman begleitet und berichten von unseren Erlebnissen.

Das Abenteuer

Zwei Jahre nach dem eher problematischen ersten DSA-Roman Das eherne Schwert wagte sich auch DSA-Erfinder und Chefredakteur Ulrich Kiesow an eine literarische Aufbereitung seiner Spielwelt, und nahm die Leserschaft mit auf ein klassisches Heldenabenteuer. Die Protagonisten können allesamt einer DSA-Spielrunde entnommen sein, die Handlung orientiert sich stark an einem typischen Rollenspielabenteuer der achtziger Jahre, inklusive eines ausführlich beschriebenen Dungeons mit kuriosem Boss-Monster. Tatsächlich findet sich auf der Rückseite der Originalausgabe von 1987 der Satz:
Die "Gabe" ist zwar als spannender Roman gestaltet, kann aber wie ein echtes Das Schwarze Auge-Abenteuer von einer Spielrunde nacherlebt werden.
Damit lehnt sich Kiesow zwar ziemlich weit aus dem Fenster, denn von einem fertig ausgearbeiteten Abenteuer oder auch nur Szenario ist der Roman meilenweit entfernt, aber sicherlich bietet die über 300 Buchseiten genügend Stoff und Inspiration, um einen fleißigen Meister ein schönes Abenteuer daraus stricken zu lassen.

Die prächtige Erstauflage von 1987

Es wäre spannend gewesen zu sehen was Kiesow selbst für einen Abenteuerband aus seinem Werk geschrieben hätte. Oder vielleicht hat er das ja sogar? Der Gedanke liegt nicht fern, das Kiesow den Roman auf der Basis eines seiner eigenen Abenteuer geschrieben hat. Gibt es noch irgendjemanden aus Ulrich Kiesows alten Rollenspielrunden, den man dazu befragen könnte?

Die Geschichte

Aventurien im Jahr 978 nach Bosparans Fall. Irgendwo in den nördlichen Trollzacken schlägt sich eine kleine Truppe von Abenteurern durch Gebirge und Wälder. Ein Krieger, ein Halbelf, ein Streuner, eine Rondra-Geweihte und ein Zwerg sind auf dem Weg nach Beilunk, um dort mehr über die sagenumwobene Festung Kurkum des mindestens ebenso sagenumwobenen Volks der Amazonen in Erfahrung zu bringen. Ausgeschickt von Fürst Halman von Albernia, sollen die fünf nach Yppolita, der illegitimen Tochter des Fürsten suchen, und herausfinden, warum sie plötzlich verschwunden ist.

Unterwegs stoßen sie auf eine junge Diebin, die unter Gedächnisverlust leidet und den Namen Mädchen bekommt. Und so bekommt die Heldengruppe es auf dem abenteuerlichen Weg in die Beilunker Berge nicht nur mit Goblins, Ogern, kämpferischen Amazonen, Kneipenschlägereien und Gefängnisausbrüchen zu tun, sondern muss auch noch die Wahrheit über ihre neue Mitreisende aufdecken.

Die Vorgeschichte, die zum Verschwinden der Amazonenkönigin Yppolita führte, wird währenddessen durch kurze Rückblenden am jeweiligen Kapitelanfang erzählt. Dort erfahren wir, dass Yppolita eine Halbschwester namens Ulissa hatte, die den Thron an sich riss und Yppolita beseitigen wollte. Außerdem erhalten wir einen kurzen Einblick in die fremde Kultur der Amazonen, ihre oft martialisch anmutenden Sitten und Gebräuche, und die aus Sicht eines gewöhnlichen Mittelreichers nur schwer nachzuvollziehenden Regeln, die zur Verbannung Yppolitas führten. Gegen Ende des Buch laufen beide Handlungsstränge zusammen und münden in einem gemeinsamen Finale in den Mauern Kurkums.

Die Heldengruppe

Die Charaktere des Buches sind Stereotypen, die auch nur wenig Raum bekommen, um sich im Laufe der Handlung zu entwickeln. Elgor von Bethana, der befehlshaberische Krieger, tritt außerhalb der Kämpfe praktisch gar nicht in Erscheinung. Zwerg Larix, Sohn des Juglans, ist ständig am Nörgeln, aber sonst der unvermeidliche, bodenständig, liebenswürdige Angroschim. Viburn, der Streuner, weiß sich aus den kniffligsten Situationen herauszuwinden, verursacht dabei aber auch gerne etwa Chaos. Halbelf Arve, der Erzähler der Geschichte, ist ebenfalls nicht der strahlende Held, sondern wird oftmals von den Ereignissen überrannt und bemüht sich mitzuhalten. Mädchen, die im Laufe der Geschichte nach und nach ihre alten Fähigkeiten und Erinnerungen zurückerlangt, ist bewusst als unberechenbare Naturgewalt beschrieben, die mal zerbrechlich nackt, mal herzlos brutal erscheint. Junivera, die stets auf Ehre bedachte Rondra-Geweihte, macht im Laufe der Geschichte die vielleicht größte Wandlung durch, als sie in einem wichtigen Kampf der Mut verlässt und sie an Selbstzweifeln zu zerbrechen droht.

Die Welt

Das Aventurien von 1987 war, im Vergleich zum bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten und durchsimulierten Aventurien von 2017, noch eine Welt voller Überraschungen und von Experimenten. So konnte Kiesow, ohne Konflikte mit Regelfanatikern in irgendwelchen Internetforen befürchten zu müssen, so manche Kuriosität erfinden, die im heutigen Aventurien nur schwer vorstellbar wäre.

Prominentestes Beispiel ist sicherlich der Urwanst, ein riesiges Ungetüm, das im Kerker unter dem Fürstenpalast von Beilunk gehalten wird und dort die armen Gefangenen auffressen soll. Diese augenscheinlich von Star Wars inspirierte Mischung aus Jabba the Hutt, Rancor und Sarlacc hat einzig und allein den Zweck, den Helden einen passenden "Endgegner" zu präsentieren. Die pure Anwesenheit des Monsters in der anscheinend extra dafür gebauten Kerkeranlage ist so unlogisch und abstrus, dass sie seither in keiner Publikation mehr erwähnt wurde und auch nicht durch einen Retcon legitimiert wurde.

Der Urwanst von Beilunk - wenn Jabba mit dem Sarlacc ein Kind in der Rancor-Höhle zeugt...

Anders erging es den Feilschern: Lustige Gesellen, die sich in einer seltsamen Sprache unterhalten, retten den schwer verletzten Viburn mit einem sehr ... sagen wir mal ... eigenwilligen Heiltrank und tauchen später nochmal auf, als die Heldengruppe ein ganzes geheimes Tal voll mit diesen Kreaturen entdecken. Heute sind diese Kreaturen als Grolme längst Teil des DSA-Kanons (und auch in DSA-Sammler-Kreisen).

Noch so manche andere Erfindung des Romans liest sich heute als kuriose Stilblüte: Die streng geheimen Amazonen-Festungen, die niemand lebend finden darf (undenkbar im heutigen Aventurien, wo praktisch jeder Zentimeter beschrieben wurde); den vom Maraskantarantel-Gift aufgeblähte Zwergen-Bauch. Die "Goblin-Freunde", die zusammen mit Goblins und Ogern als Kopfgeldjäger losziehen. Der Oger als Kneipen-Rausschmeisser. Der Kerker mit kilometerlangem Geheimzugang voller Fallen. Das alles liest sich nett und unterhaltsam - ins heutige Aventurien passt das aber ganz und gar nicht mehr.

Die Editionen

Insgesamt drei Mal wurde Die Gabe der Amazonen bisher in Buchform veröffentlicht. Die Orignalausgabe von 1987 sticht besonders durch die leicht bekleidete Cover-Amazone mit Lindwurm-Bettvorleger von Tom Kidd hervor. Außerdem ist sie die einzige Ausgabe, in der die begleitenden, typischen Schwarz-weiß-Zeichnungen von Ina Kramer und der ebenfalls von ihr gestaltete erste Stadtplan von Beilunk enthalten sind.

Feilscher trifft Zwerg: Eine der Zeichnungen von Ina Kramer

Die neun Jahre später erschienene Neuausgabe in Buch 18 der langlebigen Heyne-Romanreihe verzichtet auf Bilder und Stadtplan, enthält dafür aber einen extra von Ulrich Kiesow geschriebenen Epilog, der die politischen Geschehnisse im Aventurien seit jenem Abenteuer zusammenfassen (immerhin liegt dazwischen ein Ogerzug und eine Borbarad-Rückkehr), und kurz berichtet, was aus den Helden von damals geworden ist.

Die dritte Auflage erschien im Rahmen der Ulrich Kiesow Gesamtausgabe, die Ulisses im letzten Jahr veröffentlichte. Inhaltlich ist sie mit der zweiten Auflage identisch, und enthält somit den Epilog, aber leider nicht die Bilder. Für Komplettisten bedeutet das wohl oder übel, dass sowohl die Erstauflage als auch eine der beiden Neuauflagen benötigt werden, will man das Buch in seiner gesamten Pracht genießen.

Die drei Ausgaben in der Gegenüberstellung

Aber mal unter uns: Sowohl auf den Epilog als auch auf die Bilder kann im äußersten Notfall auch ganz gut verzichtet werden...

Das Fazit

Ulrich Kiesows erster Roman führt uns auf eine abenteuerliche Reise quer durch den Kontinent, führt uns vorbei an Goblins, Ogern, Wölfen, Spinnen, fragwürdigen Grubenmonstern, Amazonen, Fallen, Höhlen, Kerkern, Städten, Burgen, und macht das Ganze auf die gradlinige und unverkrampfte Art eines frühen DSA-Abenteuers. Wer das Wirtshaus zum schwarzen Keiler, oder Silvanas Befreiung, oder eines der unzähligen anderen alten, aber unterhaltsamen Abenteuern erlebt hat, weiß in etwa was ihn erwartet. Auch wenn sich Aventurien seit jenen Tagen gewandelt hat, ist der Charme und die Vielfalt von Kiesows Welt schon voll zu spüren. Und so ist man gerne bereit, über die platten Charaktere und die arg lineare Handlung hinwegzusehen.

Die zentrale Geschichte um die beiden Schwestern Yppolita und Ulissa ist vermutlich vielen bereits bekannt, und auch beim Lesen des Buches dürfte man die wesentlichen Wendungen der Handlung frühzeitig erahnen. Ob die beiden parallelen Handlungstränge nötig gewesen wäre, muss jeder Leser selbst entscheiden. Vermutlich hätte eine Konzentration auf die Hauptgeschichte dem Buch gutgetan. Aber auch wenn man weiß, in welche Richtung das Buch steuert, fiebert man doch gerne mit den Protagonisten mit, und möchte erfahren, wie die finale Konfrontation ablaufen mag.

Erst auf der letzten Seite erfährt man übrigens auch den Ursprung des Buchtitels, der hier nicht verraten werden soll. Nur soviel sei gesagt: Das kuriose Finale mit der sprechenden Kiste und dem finalen Waffengang ist ein passender Abschluss einer lesenswerten Reise.

Mit seinen folgenden Romanen Der Scharlatan und dem Mammutwerk Das zerbrochene Rad bewies Kiesow, dass er literarisch noch mehr auf dem Kasten hatte als einen netten Dungeon-Abenteuer-Roman. Leider wurden seine Schriftstellerkarriere und sein Leben viel zu früh beendet

Schade, Ulli, Du warst ein Guter! Ich hätte noch sehr gerne viel mehr von Dir gelesen!

Der Roman "Die Gabe der Amazonen" ist im Rahmen der Ulrich Kiesow Gesamtausgabe in gedruckter Form für 49,90€ oder als E-Book für 9,99€ erhältlich, oder kann als separates E-Book für 3,99€ erstanden werden. Das Hörbuch, gelesen von Axel Ludwig, Carolin Schmitten und Tanja Haller, kann als MP3-Download für 27,95€ erstanden werden.

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