Rezension: Der Andergaster - Ein Comic

Bringt Eure Kinder ins Bett, verriegelt die Türen, denn sonst holt Euch der Andergaster auf seinem schwarzen Einhorn! Der erste DSA-Comic ist nach fünfjähriger Entwicklung endlich erschienen. Ob sich die lange Reise gelohnt hat, verraten Euch die vier Helden. Und der Schelm!

Das Projekt

Als DSA-Fan der (fast) ersten Stunde hat man ja schon so einiges gesehen: DSA-Boxen und Abenteuer, Regionalspielhilfen, Romane, Hörspiele, Reiseberichte, Hörbücher, zahlreiche Brettspiele, Kartenspiele, Computerspiele, Spielkarten, Tabletop-Spiele, Handy-Spiele, Vademecums Vademeci Vadenecumse, Lexika, Schmuck, Puzzles und sogar ein Kochbuch wurden im Laufe der Jahre mal mehr, mal weniger erfolgreich auf den Markt geworfen. Und seit heute gibt es auch noch eine Kuriosität mehr, die auf einen Platz in den Regalen der Spieler und Sammler hofft: Den ersten DSA-Comic!

Ein Tipp: Wenn Sie so jemanden im Wald treffen - besser weglaufen!

Als Ulisses-Chef Markus Plötz den Comic auf dem Kaiser-Raul-Konvent 2017 das erste Mal der kleinen elitären Öffentlichkeit präsentierte, war die Überraschung groß: Mit einem Comic hatten wohl die Wenigsten gerechnet. Und doch steckt hinter dem Projekt eine lange Entwicklungszeit: Ende 2012 begann Autor Reinhard Kotz (ein Anwalt für Strafrecht mit transsilvanischen [sic] Wurzeln!) sein aus seiner Rollenspielrunde entstandenes Szenario als Grundlage für einen Comic niederzuschreiben. Oder sagt man heute eher: Graphic Novel? Egal! Auf der Dreieich-Con Ende November 2013 präsentierte er seine Idee dem Ulisses-Verlag, und das Ergebnis können wir heute staunend in Händen halten.

Die Geschichte

Eine nebelige Nacht im nostrischen Dörfchen Waldfurten. Ein Falke schwebt vor dem Madamal. Hufgetrappel tönt durch die Stille, ein schwarzer Reiter schält sich aus dem Schatten. Die Tür einer Taverne wird aufgestossen, Ross und Reiter verbreiten Panik im Schankraum, einem Mann wird von der Axt des unbekannten Reiters der Kopf von den Schultern getrennt. Und allüberall wird ein Name geraunt, ein Name aus einer Geschichte, um Kinder zu ängstigen, ein Name, der bald überall in Nostria in aller Munde ist: Der Andergaster ist zurückgekehrt!

Königin Yolande Kasmyrin II von Nostria mit ihrem Beraterstab - und mit Stalin?

In Havena macht sich unterdessen der junge Ritter Leandro von Arvun im Auftrag der albernischen Königin Invher ni Bennain auf die geheime Mission, die Unterstützung der nostrischen Könign im albernischen Unabhängigkeitskrieg auszuhandeln. Begleitet von den beiden Soldaten Yann Wolter und Yorris Kevendoch macht sich Ritter Leandro auf den Weg nach Nostria, nicht ahnend, dass hier die Gerüchte über den zurückgekehrten dämonischen Andergaster wie ein Lauffeuer verbreiten. Ehe sich Leandro versieht, muss er zusammen mit einem selbstverliebten Ritter Answin von Orkenwall ein zerstörtes Gastgeschenk ersetzen, sich mit Orks anlegen, versuchen eine unbekannten Frau zu beschützen, und das Geheimnis des mysteriösen Andergasters zu ergründen, um schließlich zwei Königinnen zufrieden zu stellen. Eine nicht ungefährliche Aufgabe!

Das Buch

Der Comic kommt als vollfarbiges Hardcover-Buch mit insgesamt großzügigen 80 DIN A4-Seiten daher, 56 davon widmen sich der eigentlichen Geschichte um Leandro und seine Jagd auf das geheimnisvolle Phantom. Auf dem hochdynamischen Titelbild von Nikolai Ostertag reitet der Andergaster in voller Rüstung auf seinem schwarzen Einhorn auf den Betrachter zu, dem er im nächsten Moment seine blutige Axt ins Hirn treiben wird. Technisch brilliant, zeigt Ostertag schon auf dem Titel, in welche Richtung die Reise gehen wird: Eine spannende Geschichte um eine dämonische Sagengestalt. Etwaige Ähnlichkeiten zu gewissen kopflosen hessischen Reitern ist sicherlich nicht zufällig oder unbeabsichtigt!

Beim Lesen des Comics wird klar, wie dicht der Titel an der eigentlichen Geschichte ist, kann man doch jedes Detail des dämonischen Reiters in den Erzählungen der verängstigten nostrischen Dörfler wiederfinden. Auch im Inneren setzt sich die Detailtreue fort: Die Zeichnungen des Illustrators Carsten Dörr zeigen eine lebendige, stimmungsvolle, mal bedrohliche, mal warme aventurische Welt, die so bisher noch nie visualisiert wurde. Es ist eine Sache, über die Seenlande des nördlichen Albernias zu lesen, oder die schönen Illustrationen in den neuen Regionalspielhilfen zu bewundern. Aber im Rahmen der wunderschönen Comic-Bilder erhält Aventurien eine ganz neue Dimension.

Sicherlich ist der Zeichenstil nicht unbedingt jedermanns Geschmack: Optisch am ehesten an die Prinz Eisenherz Comics erinnernd, sind Figuren und Landschaften nicht unbedingt fotorealistisch zu nennen. Aber jede Zeichnung ist schön ausgearbeitetet und coloriert, die Gesichter der handelnden Charaktere sind meist gut wiederzuerkennen und ihre Mimik klar ersichtlich. Ich muss gestehen, dass ich nach den ersten Vorschaubildern erstmal skeptisch war, ob mir der comichafte Stil - nachdem wir durch die DSA5-Publikationen in den letzten Jahren optisch arg verwöhnt wurden - über 56 Seiten gefallen könnte. Aber schon nach wenigen Seiten wurden meine Bedenken beiseite gefegt, und ich wurde von der Geschichte und den von den Bildern toll eingefangenen Stimmungen in ihren Bann gezogen. Die Wärme der Schankstuben, die Kälte des winterlichen Nostrias, die Schrecken der nächtlichen Angriffe - jede Seite verströmt ihre ganz eigene Farbstimmung, die sehr gut zur dargestellten Handlung passt.

Überhaupt: Die Handlung! Nachdem mich die ersten drei neuen DSA-Hörspiele zwar technisch überzeugt und gut unterhalten, von der Geschichte aber eher enttäuscht haben, wurde ich vom Andergaster dafür vollends entschädigt: Schon auf den ersten Seiten werden wir mit der politischen Lage im Jahr 1029 BF vertraut gemacht, erfahren, dass Nostria und Andergast gerade zufällig Frieden haben, Invher ni Bennain um Unterstützung für ihren Unabhängigkeitskrieg ringt, und Nostria an den Folgen der blauen Keuche und der Versandung des Hafens leidet. Widersprüche zum aventurischen Kanon muss man hier mit der Lupe suchen, Autor und Redaktion haben hier tadellose Arbeit abgeliefert. Endlich wird auch einem aventurischen Geschichtskrüppel wie mir die nostrische Thronfolge erklärt!

Aventurische Geschichte im Schnelldurchlauf. Heute: Nostria

Insgesamt kommen alle Charaktere lebendig und plausibel rüber, selbst die offensichtlich als humorige Sidekicks ausgelegten Charaktere Yann, Yorris und Answin von Orkenwall (DER Answin von Orkenwall!) wirken nur selten anstrengend oder aufgesetzt. Die Motivationen der Protagonisten werden gut vermittelt, wichtige Charaktere durch eigene erläuternde Textblöcke vorgestellt. Gedankenblasen verdeutlichen den Gemütszustand, und sind auch für den ein oder anderen Schmunzler gut. Überhaupt kann die grundlegend eher ernste Geschichte durch so manches gut platzierte humoristische Detail erfolgreich aufgelockert werden.

Unten: Die Königin in der Regionalspielhilfe. Oben: Die Comic-Königin.

Nichtsdestotrotz ist dieser Comic nicht für die Hände von Kleinkindern konzipiert worden: Die teils recht blutigen Szenen sind höchstens etwas für hartgesottene Jugendliche, abgetrennte Köpfe und gespaltene und gespaltene Orkschädel sollte der Leser schon vertragen können. Nackte Haut kommt übrigens überhaupt nicht vor, was so DSA-untypisch ist, dass es schon extra erwähnt werden muss.

Beim Leser setzt Der Andergaster praktisch keine Vorkennnisse voraus - alle aventurischen Fachausdrücke (zum Beispiel die Namen der relevanten Zwölfgötter) werden entweder bei Bedarf als Fussnote erklärt, oder können im schön umfangreichen Glossar nachgeschlagen werden. Überhaupt muss der Anhang erwähnt werden, finden sich doch hier sehr umfangreiche Texte zur Spielwelt, zu den Autoren und zum Schwarzen Auge allgemein, die offensichtlich dafür ausgelegt sind, neue Leser für unser schönes Hobby zu gewinnen. Da ich mir um den DSA-Nachwuchs auch in unserer September-Umfrage Gedanken gemacht habe, finde ich den Ansatz, über ein neues Medium neue Spielerkreise zu erschließen, sehr lobenswert, und hoffe, dass viele Comicleser damit nach Aventurien gelockt werden.

Das Highlight des Anhangs war für mich das umfangreiche Making-Of, das die Entstehung des Comics vom ersten Skript, über die Illustratorensuche, die Skribbles, das Inking und Colorieren bis zur finalen Seite schön aufbereitet und mit großzügigen Bildern der ersten Entwürfe nachvollziehbar macht. Wer erstmal gesehen hat, wieviel Arbeit in diesem vergleichsweise kurzen Comic-Vergnügen steckt, weiß die Anstrengungen und Leistungen von Autor, Illustrator und Redaktion gleich viel mehr zu würdigen.

Links: Die Entstehung einer Seite. Rechts: Die teilweise transsilvanischen Kreativen

Das Fazit

Man muss die vorherigen Abschnitte nicht allzu aufmerksam gelesen zu haben, um zu erkennen, dass ich vom Andergaster rundum begeistert bin. Eine tolle Geschichte in stimmungsvollen Bildern, hervorragend präsentiert im edlen Hardcover-Buch mit generösem Anhang. Sympathische Protagonisten vor stimmigem aventurischen Hintergrund, mit einer guten Haupthandlung zwischen Sage und Realität, und genug offenen Plothaken, um noch nach der Lektüre über das ein oder andere Detail nachzugrübeln.

Das Experiment "DSA-Comic" kann also aus meiner Sicht als voller Erfolg gewertet werden, und es steht zu hoffen, dass dem Buch die Aufmerksamkeit vergönnt ist, die es verdient hat, und das noch viele weitere Comics folgen werden. Wenn es geht, bitte nicht erst in fünf Jahren!

Den Comic "Der Andergaster" gibt es ab sofort für 19,95€ als Hardcover-Buch bei Ulisses.

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