Rezension: Zeit der Gräber

Wenn sich an den ersten Sommertagen niemand mehr auf die Straße traut, wenn ein jeder göttergefällige Mensch seine Haustüre verrammelt und sich fünf Tage lang kein Reisender auf die Straße traut, dann sind wieder die namenlosen Tage angebrochen. Blöd nur, wenn ausgerechnet dann finstere Mächte nach der Stadt der Toten im Bornland greifen, und niemand da ist, es zu verhindern. Nur Narena und ihr Reisegefährte Wulfen wagen es, in diesen finsteren Tagen die Gräberstadt zu betreten. Die vier Helden und der Schelm haben sie wagemutig begleitet.

Die Stadt der Toten

Drauhag, nördliches Bornland. Es ist Sommer, und der Jahreswechsel steht vor der Tür. Zwei Reisende machen sich auf den Weg, die abgelegene Stadt der Toten aufzusuchen, jenem Ort, der als letztes Bollwerk Borons vor den berüchtigten Totensümpfen wacht. Narena, eine neugierige Reisende aus dem Mittelreich, und Wulfen, ein streng zwölfgöttergläubiger Bornländer, wollen der unheimlichen Nekropole einen Besuch abstatten und zu den Zwölfen beten, bevor die namenlosen Tage das Reisen unmöglich machen. Außen ihnen und der zuständigen Borongeweihten ist der Ort von den Lebenden verlassen - bis Narena eine mysteriöse Frau bemerkt, die alleine durch die Grabstätten rennt.

Keine Ahnung, wer der Herr auf dem Bild sein soll. Oder was die Hand da macht!

Zurück im sicheren Dörfchen Drauhag wollen Narena und Wulfen in einer sicheren Herberge die kommenden fünf verfluchten Tage verbringen - bis sie die seltsame Frau wiedersehen, die alleine zur Stadt der Toten aufbricht. Ein frevlerisches Tun vermutend, folgen Narena und Wulfen der Frau, in der Hoffnung, sie noch vor der Stadt der Toten und dem Anbruch des ersten namenlosen Tages dingfest zu machen. Doch eine Horde Sumpfranzen verhindert ihre Pläne, und so müssen Narena und Wulfen bald, eingesperrt in der Stadt der Toten während der namenlosen Tage, um ihr Überleben kämpfen.

Während die beiden noch die unbekannte Reiterin suchen, erfährt der Leser, dass eine Reiterin namens Mjeska von einem Mann gefangen genommen und für ein düsteres Ritual missbraucht wird. Im Detail, aber in stetigem Wechsel mit dem Haupthandlungsstrang um Narena und Wulfen, erleben wir den Verlauf ihres Martyriums in den Händen des Mannes und seines düsteren Herrn. Erst zum Ende des Buches hin laufen beide Handlungsstränge zusammen und erklären die bis dahin einigermaßen nebulöse und geheimnisvolle Geschichte.

Bis dahin müssen Narena und Wulfen Angriffe durch Irrlichter und Seelensammler, Dämonen (oder Elementare?), einstürzende Häuser und uralte Fallen überleben, bis es schließlich in einer uralten Kultanlage zum großen Finale kommt.

Das Buch

Bjørn Jagnows erster und einziger DSA-Roman war der dritte in der offiziellen Heyne-Taschenbuchrreihe, und führte den Leser das erste Mal in die tiefen Weiten des nördlichen Bornlands. Gute sechs Jahre nach der veröffentlichung der allerersten Regionalspielhilfe Das Bornland und nach diversen Abenteuern in der Region (MenschenjagdStromaufwärtsFolge dem Drachenhals, Die Attentäter, Der Zorn des Bären), erleben wir ein stimmungsvollen Einstieg in die Geschichte mit authentischem bornländischen Akzenten, und einer schönen Führung durch die Stadt der Toten - einem Setting, das zuvor und seitdem seltsamerweise von keinem anderen Buch oder Abenteuer aufgegriffen wurde, wenn man dem Wiki Aventurica Eintrag zu diesem Thema glauben kann.

Doch lange verweilt Jagnow nicht auf Landschafts- oder Ortsbeschreibungen, denn schon bald liegt der Fokus auf der langen Kette von Ereignissen, die die beiden Protagonisten Narena und Wulfen immer länger in der Stadt der Toten gefangen hält. Dabei fühlen sich einige der überraschenden Wendungen, die eine schnelle Flucht unmöglich machen, arg konstruiert hat, und so hat man als Leser beständig das Gefühl, vom Autor mit unzähligen Deus ex Machinas durch die Handlung gerailroaded zu werden. Nicht falsch verstehen: Jeder Roman ist "per definitionem" eine festgelegter Schienenstrang - aber das merkt man als Leser in einem guten Buch hoffentlich nicht! Hier hingegen ist es offensichtlich: Die Protagonisten wollen vor den namenlosen Tagen umkehren? Schickt sofort ein paar Sumpfranzen! Die Sumpfranzen sind zu langweilig geworden? Lasst sie von einem Dämon aus Regen und Blitzen annihilieren! Flucht in die Hütte der Boroni geglückt? Sofort die Hütte plattmachen!

Und so quält man sich als Leser durch so manche Seite, rollt die Augen über die nächste mysteriöse Wendung, sehnt das Ende dieser anstrengenden namenlosen Tage herbei - bis man schließlich gegen Ende des Buches zu realisieren beginnt, dass doch etwas mehr hinter dem Buch steckt, und so mancher Handlungssprung tatsächlich aus der Geschichte motiviert wurde. Ohne hier zuviel zu verraten, sei dem armen Leser gesagt, dass das Ende so manches große Fragezeichen auflöst und man mit dem Autor etwas versöhnt wird.

Neben der Haupthandlung wird auch die Geschichte der gefangenen Mjeska schonungslos detailiert erzählt, was spätestens in den Folter- und Missbrauchsszenen durchaus unangenehm und anstrengend sein kann. Der Autor lässt den Leser niemals vergessen, dass der Roman von den namenlosen Tagen und den zugehörigen Machenschaften handelt, und dementsprechend sollte man kein Wohlfühl-Buch mit romantischem Happy End erwarten.

So sieht übrigens ein Seelensammler aus (Bild aus dem ersten Boten und Rückkehr des Kaisers)

Grundsätzlich fügt sich Die Zeit der Gräber schon recht gut in den aventurischen Hintergrund ein, von den Seelensammlern einmal abgesehen, die vom nicht-kanonischen ersten aventurischen Boten übernommen wurden und definitiv nicht mehr ins aktuelle Aventurien gehören (der Nirraven, bekannt u.a. aus Goldene Blüten auf Blauem Grund, dem Jahr des Feuers und Seelenernte ist ja mehr ein Retcon und hat bis auf das Graffiti-Bild aus Die Rückkehr des Kaisers nicht mehr viel mit dem Möchtegern-Vampir aus dem ersten Boten zu tun). Dass die beiden Protagonisten stets Opfer einer sehr freien Form magischen (oder göttlichen?) Wirkens werden, lässt sich aufgrund der Erklärung im Finale des Buches durchaus noch akzeptieren.

Das Fazit

Insgesamt ist die Lektüre der Zeit der Gräber sicherlich keine angenehme Erfahrung: Die Haupthandlung tröpfelt mit anstrengender Ereignislosigkeit vor sich hin, oft nur kurz von unmotivierten Action-Einlagen unterbrochen. Das Verhalten von Narena und Wulfen ist oft nicht nachvollziehbar, und sympathisch werden beide dem Leser bis zum Ende auch nicht. Manche Episoden, wie das fallengespickte unterirdische Gangsystem, hätten nach meinem Geschmack komplett gestrichen werden können, brachten sie die Handlung doch kaum weiter. Die Schilderung der namenlosen Tage ist hingegen rundum gelungen, selten ist es einem Autor gelungen, die Furcht und Hoffnungslosigkeit der Bevölkerung so lebendig werden zu lassen.

Ich muss gestehen, dass ich mich zeitweise ziemlich zwingen mussten, die Lektüre fortzusetzen. Das Einzige, was mich davon abgehalten hat, das Buch zwischendurch abzubrechen, war zum einen der unselige Drang, irgendwann in ferner Zukunft mal alle DSA-Romane gelesen zu haben, und zum anderen die Hoffnung auf eine halbwegs plausible Auflösung der mysteriösen Ereignisse um die geheimnisvolle Frau und das brutale Ritual, das an Mjeska vollzogen wird. Und die habe ich auch bekommen! Ohne die letzten 20 Seiten hätte ich das Buch in die Kategorie "nur schwer erträglich" abgetan, mit der Auflösung bin ich nun weitaus milder gestimmt. In Retrospektive ist die Handlung des Buches und die seltsamen Ereignisse sehr viel verständlicher und nachvollziehbarer, und man sieht ein, warum der Autor die Figuren so hat handeln lassen müssen. Jagnow spielt die Erwartungen des Lesers geschickt gegen ihn selbst aus, und schafft es so vermutlich, den Großteil der Leserschaft bis mindestens zum letzten Drittel des Buches über die wahre Verflechtung der beiden Handlungsstränge im Unklaren zu lassen.

Aber leider macht auch diese späte Erkenntnis das Buch für mich zu keinem überragenden Stück DSA-Literatur. Der zu Grunde liegende Aufhänger ist leider nicht gut genug, um dafür 247 mittelmäßig geschriebene und oft genug unspannende Seiten zu rechtfertigen. Es fehlt eine echte Charakterentwicklung Narenas und Wulfens, ihre Handlungen sind zu oft unmotiviert, die durchaus interessanten Szenen mit Mjeska und ihrem Folterer können den Spannungsbogen der Geschichte leider nicht allein tragen. Die Ortsbeschreibungen Jagnows sind oft nur bedingt verständlich, und insbesondere Aussehen und Topologie der finalen Ritualkammer wurden mir auch bei mehrfachem Lesen nicht deutlich. Sicherlich ist Jagnow kein schlechter Autor - aber schon aufgrund des Themas und der gesichtslosen Hauptcharaktere wollte bei sich mir keine rechte Freude beim Lesen einstellen.

Und so bin ich froh, die namenlosen Tage in der Stadt der Toten überstanden zu haben, bin dankbar, Zeuge eines durchaus interessanten literarischen Experimentes gewesen zu sein, und freue mich nun auf andere DSA-Romane mit einer hoffentlich insgesamt positiveren Grundhaltung.

Die "Zeit der Gräber" von Bjørn Jagnow ist als E-Book bei Ulisses für 4,99€ oder antiquarisch z.B. bei Amazon oder Medimops erhältlich.

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