Ein neuer Rollenspieler?

Das Leben eines Rollenspielers ist schon merkwürdig: Da kämpft man gegen untote Kaiserdrachen und fiese Paktierer, bezwingt Tatzelwürmer und Riesenamöben, und freut sich, wenn man nach bestandenem Abenteuer seine Fertigkeiten verbessern und tolle Ausrüstung einsacken kann. Doch die Schätze und Belohnungen sehen eigentlich ganz anders aus. Aus aktuellem Anlass philosophiert der Schelm über den Anfang, Ende und Sinn des Rollenspieler-Lebens.

Die Heldenerschaffung


DSA ist mein Leben. Gut, nicht mein ganzes Leben, schließlich wollen auch Frau, Kind, Beruf, Verwandschaft und Freundeskreis noch etwas von der knapp bemessenen Lebenszeit abknapsen. Aber DSA ist sicherlich ein wichtiger Teil meines Lebens, ein Teil, ohne den mir etwas fehlen würde. Viele Jahre lang haben wir kein DSA gespielt, weil unsere Gruppe zu klein geworden war, wir keine Zeit mehr für DSA zu haben glaubten. Bis wir es 2013 wiederentdeckten, und mit ihm die Freude am Spielen.

Und so verbringt man tolle Tage und Nächte in finsteren Kavernen und schummrigen Kneipen, reist durch die Lande und kämpft um sein Leben, rätselt, mutmaßt, blödelt, schauspielert, würfelt und schummelt sich durch die wunderbare Welt, die gemeinsam in den Köpfen von Meister und Helden entsteht. Es sind nicht immer perfekte Abenteuer, und sehr oft ziehen sich Handlung, Kämpfe oder Rollenspiel wie zähes Kaugummi. Aber es ist eine Zeit, die man mit guten Freunden verbringt, deren Eigenheiten man kennt, und die, genau wie man selbst, ihre Freizeit investieren, um gemeinsam spannende Geschichten erleben zu dürfen, über die man vielleicht auch in Jahren noch sprechen wird.

Es ist sicher kein Mainstream-Hobby. Außer uns machen das nur ein paar Tausend andere Verrückte in Deutschland. Es ist kein glamouröses Hobby. Bei Nichteingeweihten wird man oft wenig Interesse oder Verständnis für die viele Zeit und das viele Geld finden, die man für diese kleine Portion Realitätsflucht investiert. Man kann die Faszination von Rollenspiel nur schwer erklären, wenn man es nicht selbst mal versucht hat. Wenn man nicht selbst Blut geleckt hat, wenn man noch nie erlebt hat, welchen Spaß eine gelungene Probe, ein aufgedecktes Komplott, ein bezwungener Gegner machen kann. Wenn man nicht selbst einen jener seltenen Momente erlebt hat, wo alle Spieler in ihren Rollen aufgehen, wo Meister und Helden gemeinsam die Geschichte nach ihrem Willen formen und vorantreiben, und wo man am Ende der Spielsitzung mit einem zufriedenen, wenn auch erschöpften Grinsen die Chipskrümel abstreift, die Würfel einpackt und sich schon auf das nächste Treffen freut.

Rollenspiel ist ein gefährdetes Hobby. Von den Hunderttausenden DSA-Spielern der 1980er Jahre sind nur noch ein Bruchteil aktiv, der frisch hinzu gekommene Nachwuchs kann die entstandenen Breschen nur notdürftig füllen. Auch wenn die jetzige Spielerschaft sehr konstant und treu zu ihrem Hobby steht, und viele von sich behaupten, bis an ihr Lebensende mit Kletterseil, Hartkäse, Wasserschlauch und Gwen Petryl durch derische Welten ziehen zu wollen, kann man nicht verleugnen, dass viele von den alten Hasen mittlerweile tatsächlich alt sind, und sich der Altersdurchschnitt seit den achtziger Jahren vermutlich um ein bis zwei Jahrzehnte erhöht hat. Und die immer wieder auftauchenden Meldungen über verstorbene DSA-Schreiber lassen uns immer häufiger bewusst werden, dass keiner von uns eine Rose der Unsterblichkeit oder ein Juvenarium sein Eigen nennt, und unsere Lebenszeit auf Dere und Erde begrenzt ist.

Als DSA 1984 auf den Markt kam, gab es in Deutschland drei Fernsehprogramme (die nachmittags und nachts nichts sendeten), nur vereinzelte erste Video-Rekorder, Heimcomputer oder Spielkonsolen. Internet und Smartphones schienen damals utopischer zu sein als Raketenrucksäcke und saubere Kernkraft. Niemand konnte erahnen, wie schnell der Fortschritt in der Computertechnologie und das Aufkommen des Internets unsere Freizeitgewohnheiten verändern würden. Wer damals jung war, kletterte durch Wälder, spielte Fussball, hörte Hörspielkassetten, ging ins Kino oder las ein Buch - zumindest in meiner Erinnerung dieser Zeit. Viel mehr Möglichkeiten zum Eskapismus gab es nicht. Und so lässt sich vielleicht erklären, wie revolutionär uns damals die ersten Rollenspielrunden vorkamen, wie befreiend es war, einmal als eine andere Person, als strahlender Held, mächtiger Magier oder geschickter Dieb durch die erschrecken linearen Höhlensysteme zu ziehen. Dank Fernsehwerbung und Präsenz in praktisch allen Spieleläden und Buchhandlungen wurde DSA zu einem Massenphänomen, und es wäre schön, wenn es das auch geblieben wäre.

Heute braucht man kein Pen-and-Paper-Rollenspiel mehr zum Eskapismus. Ich kann heute nach dem Frühstück als Ritter durch's mittelalterliche Böhmen ziehen, mir danach als Kleinkrimineller in Los Santos heiße Schießereien liefern, um anschließend in meinem Raumschiff die Milchstraße zu erkunden und schließlich als Medjai im Ägypten die Pyramiden zu erklimmen. Alles, ohne meinen Schreibtisch zu verlassen. Ich könnte als amerikanischer Präsident auf dem Klo sitzend über eine Twitter-Nachricht den dritten Weltkrieg auslösen - wofür brauche ich da noch Fantasy-Rollenspiele mit Würfeln und Zetteln?

Die Freizeitmöglichkeiten sind heute so vielfältig geworden, die technischen Möglichkeiten so immens, die mediale Dauerbeschallung so penetrant, dass die Jugendlichen und Erwachsenen von heute vollauf damit beschäftigt sind, aus der Flut von E-Mails, WhatsApp-Nachrichten, Instagramm-Bildern, Facebook-Streams, YouTube-Videos und Webseiten den für sie relevanten Teil zu extrahieren, dass zum Ausprobieren eines auf den ersten Blick so banalen Hobbys wie würfelnd mit Freunden am Tisch zu sitzen kaum Zeit bleibt.

Würde ich als heutiger Jugendlicher mit DSA beginnen? Ich bezweifle es ernsthaft. Ich müsste durch Mundpropaganda oder zufällig bei den Rocket Beans gesehene Let's plays neugierig gemacht werden, müsste in meinem Freundeskreis genug Gleichgesinnte lokalisieren, und müsste mich dazu durchringen, die nicht kleine Investition in ein Basisregelwerk und vielleicht ein paar Erweiterungen oder Abenteuer zu investieren. Geld, dass alle meine Freunde vermutlich in neueste Computerspiele, Handy-Games oder Klamotten investieren würden. 1985 gab es in jedem Klassenzimmer der Mittel- oder Oberstufe ein paar DSA-Spieler. Heute wird man vermutlich durch viele Klassenräume wandern müssen, um einen Interessierten zu finden.

Ich bin heute Vater geworden. Zum zweiten Mal. Mein Sohn Lukas hat am 16.04.2018 um 11:55 Uhr das Licht der Welt erblickt. Ein kleines 2470 g schweres Bündel von Zellen, das gerade mühsam lernt zu Atmen, zu Essen und seine Körpertemperatur zu halten. Dem seit heute die ganze Welt, mit all ihren Herausforderungen, Gefahren, Macken, aber auch Chancen und Wundern offen steht.



Ich bin heute 41 Jahre alt. Wenn mein Sohn alt genug für Rollenspiel ist, werde ich wohl um die 50 sein. Wird es dann noch Das Schwarze Auge geben? Werde ich ihn dazu bringen können, sich Woche zu Woche mit anderen Zellbündeln zu treffen, um mit ihnen durch imaginäre Welten zu streifen und eine tolle Zeit mit Würfeln und Schicksalspunkten zu haben? Wird auch er im Jahr 2059 von sich behaupten können, seit 30 Jahren mit den selben positiv Bekloppten Woche um Woche, Monat um Monat, durch Aventurien oder Uthuria oder Myranor oder Tharun oder Rakshazar zu ziehen um Drachen zu bezwingen, entführte Bauerntöchter zu befreien und paktierende Adelige zu überführen? Wird auch er mit seinen Freunden so viel Spaß, so viel Spannung und so viel Schokolade erleben können wie wir das seit damals haben und hoffentlich auch in Zukunft noch werden?

Lukas, ich weiß nicht, was Dein Leben Dir bringen mag. Ob Du Künstler oder Politiker, Ingenieur oder Bettler, Autor, Astronaut, Steuerprüfer oder Hausmann werden wirst. Ob Du zufrieden oder dauergestresst sein wirst, und ob es Dir vergönnt sein wird ein Leben in Frieden und Wohlstand verbringen zu können, so wie es meiner Generation vergönnt war. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass es Dir bei all den bevorstehenden Erlebnissen, Prüfungen und Überraschungen Deines hoffentlich langen Lebensweges gelingen wird, viele gute Freunde zu finden, viel Spaß zu haben und sehr glücklich zu sein. Ich weiß, dass ich all das und noch viel mehr gefunden habe, und sehr dankbar bin für all das, was das Leben mir bisher an Gutem vor die Füße geworfen hat. Ich hoffe, dass Du mindestens ebenso viel Glück haben wirst.

Und wer weiß - vielleicht wirst Du irgendwann ein Bisschen von diesem Glück mit einem zwanzigseitigen Würfel, einer Handvoll Chips, einem Bleistift und einem Heldendokument inmitten Deiner guten Freunde finden.

Kommentare

  1. Alles Gute Dir, Lukas und Eurer Familie. Es hat mir gerade richtig gut getan diese Zeilen zu lesen. Ich freue mich, dass Lukas mit so viel Liebe auf der Welt empfangen wurde. Und dass er einen Vater hat, der einem Teil seines Lebens, dem Rollenspiel, so viele Begeisterung und Leidenschaft entgegen bringt und das mit mir und vielen anderen denen es geht wie ihm hier teilt und mit aller Offenheit auch eines Tages mit ihm teilen würde, wenn er möchte.

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  2. Auch hier nochmal Hurra und alles Liebe!

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  3. Na dann mal noch einen herzlichen Glückwünsch.

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  4. Viel Glück von einem Vater zum anderen! Und man möge mir den Einwurf verzeihen: Nebenbei hoffe ich, dass dies das einzige Foto des zukünftigen Rollenspielers sei, dass seinen Weg in die Untiefen des Netzes findet - zumindest bis zu dem Zeitpunkt, da er selbst über sich im Netz entscheiden kann und darf.

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    1. Ist selbstverständlich - ich bin kein Facebook-Kinderbilder-Papa. Von meiner Tochter wirst Du im Netz vermutlich auch kein Bild finden. Aber ich finde, ein Geburtsbild darf man als stolzer Papa bringen! Früher gab es sowas auch gerne mal in einer Zeitungsanzeige - da ist mein Blog doch deutlich weniger präsent.

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    2. Sehr schön. Dann muss ich jetzt nur noch ein paar Jahre warten, bis die ersten Berichte zu Spielsitzungen mit Deinen Kids kommen. ;)

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    3. Ich habe auch gezuckt, als ich Vornamen, Nachnamen (vermutlich der gleiche wie der Vater), Geburtsdatum und Foto auf einer Homepage gesehen habe. Das Netz vergisst sowas nicht und in 20 Jahren könnte irgendein teuflischer AlgäuRythmus deinen Sohn mit diesem Text in Verbindung bringen.
      Ansonsten, Kai, herzlichen Glückwunsch und alles Gute für deine Familie.

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  5. Mathias Blietschau22. April 2018 um 20:19

    Erst einmal: Herzlichen Glückwunsch für Dich und Deine Familie, alles Gute und vor allem Gesundheit für Lukas :-)

    Der Text den Du geschrieben ist einfach "fantastisch" (dieses Wort passt natürlich auch sehr schön zu unserem Hobby ;-) ). Ich weiß nicht, wie man all das besser ausdrücken sollte. Sowohl was Deine Erinnerungen an früher angeht (was sich mit meinen deckt) als auch die heutige Situation. Die "mediale Dauerbeschallung", wie Du sie bezeichnet, ist wirklich extrem heutzutage und es ist schade, dass (auch dadurch) solch schöne Dinge wie Rollenspiele bei vielen Jugendlichen unter den Tisch fallen. Hoffen wir mal, dass unser Hobby die nächsten Jahrzehnte übersteht. Leute wie Du und z.B. die Nanduriaten sorgen auf jeden Fall dafür, dass es immer weitergeht :-) Danke dafür!

    Mathias

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  6. Herzlichsten Glückwunsch!
    Und ein schöner Text - für die nächste Generation wird unsere Aufgabe wohl vor allem sein, in all den unendlichen Möglichkeiten und vor allem den unendlichem Mist da draussen den Blick für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens schärfen zu lehren. Und die finden sich mit Sicherheit eher in der eigenen Fantaie und bei Freunden am Tisch als bei Instagram.

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  7. Meine Jungs sind 12 und 10 und beide infiziert. Das wird schon.

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